Obgleich sie in London geboren wurde und aufwuchs, begann Alice Cicolinis Faszination für Indien schon in der Kindheit: Während ihre Mutter die Serie „Jewel in the Crown“ verfolgte, sah sie zu – heimlich, mit einem offenen Auge, während sie so tat als schliefe sie. Es waren die leuchtenden Farben, die umfassende Pracht, die erhabenen Elefanten – Alice war verzaubert.
Ihr erster Besuch in Jaipur, fast 20 Jahre später, sollte für sie zum unvergesslichen Erlebnis werden: „Nichts an dieser ersten Begegnung war enttäuschend“, erzählt sie heute. „Schon bevor wir landeten, sahen wir den roten Staub, die wirbelnden Falken – der intensive Geruch brennender Feuer zog durch das Flugzeug. Ein Sinneserlebnis, das meine Erinnerung nie verlassen wird.“ Die Landung im Morgengrauen und die Fahrt durch die “Pink City“ – wie Jaipur wegen der Farbe seiner wichtigsten Bauten genannt wird -, weckten in ihr den Wunsch, mehr zu entdecken. Also tat sie es.
Alices Reise nach Indien wurde geprägt von Visionären wie Faith und dem mittlerweile verstorbenen John Singh; das kreative Power-Paar hinter dem Jaipur Literature Festival. Ein Freund des Paares, Vinod Joshi, brachte ihr Jaipurs reiches kulturelles und architektonisches Erbe näher. Doch erst in der Festung Mehrangarh Fort in Jodhpur nahm für Alice plötzlich alles Gestalt an: Vor einer kunstvoll verzierten königlichen Schmuckschatulle stehend, stellte sie sich all die Schätze vor, die jene einst enthielt. Mit einem Mal konnte sie das Gewicht der Geschichte spüren, die Spuren der Tradition. In diesem Moment entfaltete sich für sie die Möglichkeit, Indiens Handwerkskunst und die Rituale des Landes in einer zeitgenössischen Perspektive neu auferstehen zu lassen.
Nach über einem Jahrzehnt als Kuratorin für Modeausstellungen und zeitgenössisches Design sowie langjähriger Zusammenarbeit mit dem Produktdesigner Tom Dixon, schloss Alice 2009 ihren Master in Schmuckdesign am Central Saint Martins in London ab.
Und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Wir haben mit Alice über ihre eleganten Kreationen und ihre Reise in die Welt des Schmuckdesigns gesprochen – von ihrer Recherche zu historischen Handwerkstraditionen bis zu der tieferen Bedeutung hinter der schicksalhaften Schmuckschatulle.
Unser Interview mit Alice Cicolini
Beginnen wir am Anfang. Wo bist du aufgewachsen?
Ich wurde in London geboren und verbrachte meine gesamte Kindheit in diesem Haus. Meine Mutter und mein Vater haben es 1970 gekauft und beide bis zu ihrem Tod dort gelebt. Ich wuchs auf, umgeben von Büchern, experimenteller Gartenarbeit und Liebe.
Was am Thema Schmuck hat dich angezogen?
Mein Freund und Mentor Simon Fraser ist Studiengangsleiter für den Masterstudiengang Schmuck am Central Saint Martins. Durch ihn habe ich erkannt, dass Schmuck etwas ist, bei dem man noch kreativ eine hybride Identität erschaffen kann; zum Teil Mode, zum Teil Handwerk, zum Teil industrielles Design – es war zweifellos noch nicht so zur Formel erstarrt wie die Modebranche. Und durch meine kurze Arbeit für Andrew Grima in den späten Neunzigern – ohne offiziell ausgebildet zu sein – lernte ich dank seiner immensen Kreativität, dass es viele Wege gibt, als Schmuckdesigner zu arbeiten. Und mutig zu sein.
Hattest du auf deinem Weg ein Aha-Erlebnis?
Ich war unglaublich inspiriert von einer Schmuckschatulle, die ich im Mehrangarh Fort Museum in Jodhpur gesehen hatte. Die etwas rätselhafte Schrift unter dem Stück besagte, dass die Schatulle alle Gegenstände enthalten hätte, die für ein „Solah Shringar“ benötigt würden. Das hat mich zu einer Reise durch die indische Kultur verleitet. Von der legendären Kapila Vatsyayan bis zu Usha Balakrishnan führte sie entlang aller möglichen wunderbaren Geschichten aus den Leben majestätischer Frauen!
Bei Solah Shringar handelt es sich um ein Schmuckritual mit sechzehn Phasen, das sowohl Gegenstände wie Ringe, Armbänder und Halsketten einschließt als auch verschiedene sensorische Erfahrungen wie Düfte, Klänge und Haptik. Es geht auch um die Methoden zum Aufbau dieser Ebenen, Baderituale und so weiter. Ich empfand das als sehr kraft- und eindrucksvoll. Ich würde sagen, ich habe noch nicht einmal die Oberfläche von dem berührt, wohin es mich führen würde, aber ich habe es meine ganze Karriere schon! Es liegt verschachtelt in dem zarten Klang, den Metall oder Rubine auf handgeschnitztem Ebenholz in Ringen, Ohrringen und Anhängern erzeugen, für die eine eigene Bewegung in jedes Stück eingearbeitet wird.
Ich habe mich auch mit der Herstellung von Anhängern beschäftigt, die auseinandergenommen und an verschiedenen Körperteilen getragen werden können. Sodass alle Schmuckstücke, die eine Frau vielleicht brauchen könnte, in einem Objekt zusammengefasst sind. Da liegt immer noch ein Stück Weg vor mir, aber ich denke ständig darüber nach, wie ich diese Idee weiterentwickeln kann!
Wann hast du dich als Marke etabliert?
Ich habe meine Marke direkt 2009 nach dem Abschluss am Central Saint Martins gegründet; mein erstes Stück habe ich direkt vom Stand aus an Peter Ting verkauft, den Kreativdirektor für luxuriöse Haushaltswaren bei Asprey. Ich denke, von da an baute ich auf dem Interesse und der Unterstützung der Menschen auf, die ich als Kuratorin kennengelernt hatte – vor allem Janice Blackburn, die außergewöhnliche Kuratorin und Sammlerin, ohne die ich heute wahrscheinlich nicht hier wäre. Und Valery Demure, deren großzügiger Geist und Bereitschaft, das Ungewöhnliche aus nichts als Respekt zu fördern, selten und wertvoll ist. Sowie Alix Duvernoy, Stylistin und Art Director, deren kreatives Auge und Experimentierfreude heutzutage eine Rarität sind.
Diese Menschen und meine Agentin Touba haben mir die Möglichkeiten gegeben, meine Arbeit zu zeigen, darüber mit den richtigen Leuten zu sprechen und die Türen zu Händlern zu öffnen, die meine Marke auf das nächste Level bringen konnten.
Wie näherst du dich den Schmuckdesigns an und was hoffst du, nehmen die Leute aus deinen Kreationen mit?
Bei meinem „Stil“ geht es um Zusammenarbeit und Gegenüberstellung, Handwerkskunst, traditionelles Erbe und Farbe. Ich verfolge einen stark kuratorischen Ansatz bei meiner Arbeit; hinter den Kollektionen steckt immer viel Geschichte. Ich hoffe daher, dass die Käufer diese Geschichten – hinter den Designs, hinter den Menschen, die sie hergestellt haben, hinter den Techniken und Traditionen der Handwerkskunst – mit nach Hause nehmen und die Geschichte der Schmuckstücke um ihre eigene erweitern, wenn diese Teil ihres Lebens werden.
Ich denke, dass die Handwerkstechniken sich vielleicht verändern. Aber die Prinzipien hinter meinen Kreationen und die Herangehensweise an meine Arbeit werden dieselben bleiben. Bei diesem Ansatz geht es um das Konzept des entschleunigten Luxus, um das Feiern der Schönheit des alten Meisterhandwerks und um das Privileg, diese Kunst mit edlen Materialien zu verwirklichen.
Damit ein solches Geschäft in dieser industriellen Branche bestehen kann, werde ich mich dieses Jahr damit auseinandersetzen, wie wir diese Vision in die Welt bringen und mit der Marke neue Märkte erschließen können. In einer Welt des schnelllebigen Luxus ist es schwierig, einem breiten Publikum den Wert alternativer Entscheidungen zu vermitteln. Aber ich bin sehr leidenschaftlich dabei, einen Weg dafür zu finden.
Ich erinnere mich oft daran, dass T.S. Eliot sein gesamtes Berufsleben lang als Lektor für Faber gearbeitet hat und es trotzdem schaffte, einer der wichtigsten Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts zu werden. Zwei Mottos treiben mich an: „Klein ist schön“ und „Was lange währt, wird endlich gut“.
Wie sieht dein typischer Tag aus?
Ein normaler Tag besteht aus dem Austausch mit den vielen Menschen, mit denen ich arbeite. Von meiner Studioleiterin Gabrielle Harris bis zu den Handwerksmeistern in Jaipur und London, die meine Arbeiten anfertigen. Morgens versuche ich, so viele E-Mails wie möglich zu beantworten. Meine Abende nutze ich dann – nachdem die Kinder eingeschlafen sind – um zu schreiben, über den Tag und die Zukunft zu reflektieren.
Ich bin auch immer noch Kuratorin, arbeite mit anderen Designern und Künstlern als Kreativbeauftragte zusammen und als Designexpertin mit weiteren Designern und Unternehmen. All diese Interaktionen bereichern mein Denken und meine Entwicklung in wirklich ausschlaggebender Weise. Als Kuratorin habe ich die Zusammenarbeit mit Spitzenprofis genossen – dafür, was ich lernen kann, für ihre Energie und für den konstanten Grad an Überraschung und Herausforderung, der damit einhergeht, mit großartigen Denkern zu arbeiten.
Mein Leben spielt sich in London ab und seit ich zwei kleine Kinder habe, reise ich weniger als davor – und wenn ich es doch tue, bleibe ich näher an Zuhause. Bald werde ich zum ersten Mal Antwerpen besuchen und bin schon wirklich aufgeregt. Besonders, da sich dort die Heimat von Dries Van Noten und dem Museum Van Böningen befindet – beides große Inspirationen von mir.
Was oder wer inspiriert dich genau?
Der oben erwähnte Andrew Grima, Verdura, Boivin und Belperron. Aus der heutigen Zeit: Melanie Georgacopoulos, eine der freundlichsten, fokussiertesten und talentiertesten Menschen in der Schmuckbranche. Judith Clark, die für mich die weltweit experimentellste und inspirierendste Design-Kuratorin ist. Anna Talens und Katie Horwich – zwei Künstlerinnen, von denen ich hoffe, dass ich in der Zukunft mit ihnen zusammenarbeiten werde. Das Blythe House mit seinem V&A-Archiv: Ein Gebäude, das eine der bedeutendsten Kunstsammlungen der Welt beherbergt und diese so raffiniert und inspirierend präsentiert, dass ihre Geschichte durch den Raum zu hallen scheint.
The World of Interiors und 1stDibs sind für mich Heiligtümer, die über Mode hinausgehen und sich der Wertschätzung feiner Handwerkskunst zuwenden. Frieze Masters und Masterpiece gehören zu meinen jährlichen Pilgerzielen auf dem Londoner Festivalkalender. The New Craftsman und Mallet of Bond Street sind zwei Institutionen, welche die Herkulesaufgabe verfolgen, die Menschen daran zu erinnern, warum makellose Handarbeit so wertvoll ist – sowohl in kultureller als auch ästhetischer Hinsicht.
Hast du ein (selbstgemachtes) Lieblingsstück?
Den Seidenstraßenanhänger: Zum einen, weil er das erste Stück ist, das ich in Jaipur angefertigt habe. Zum anderen, weil er so viele Ideen birgt, die mich interessieren – die kulturellen Nuancen von Mustern, das Zusammenspiel von Farbe und Form und die Tatsache, dass er auseinandergenommen und auf verschiedene Arten getragen werden kann, die der Trägerin erlauben, es zu einem Statement ihrer Stimmung zu machen. Ich liebe es, mit geschnitztem Holz und Stein zu arbeiten, mit 22-karätigem Gold, Emaille und farbenprächtigen Halbedelsteinen – wie dem Feueropal, gelbem Saphir, rosa Turmalin, Almandin-Granat, Chrom-Turmalin und Azur-Opal.
Welche Schmuckstücke trägst du am liebsten?
Meinen Ehering – aus offensichtlichen Gründen – und einen goldenen, gedrehten Spaltring, der mich daran erinnert, dass auch Funktionalität schön sein kann und umgekehrt.
Gibt es jemanden, an dem du deine Schmuckstücke gerne sehen würdest?
Der Tag, an dem Tilda Swinton, Michelle Yeoh, Cate Blanchett, Nandita Das, Lupita Nyong’o, Salma Hayek, Kristin Scott Thomas oder Nicole Kidman mit einem meiner Schmuckstücke bei der Oscar-Verleihung erscheinen, wird ein guter Tag sein.
Gibt es ein bestimmtes Schmuckstück, das du gerne besitzen würdest?
Ein Vintage-Stück von Grima – das wäre das Größte überhaupt.
Welche Schmucktrends siehst du aktuell?
Ich denke, Schmuck polarisiert mit globalem Marken-Massenluxus (wie bei den Frauen, die gerne ein Leben lang ihren Verlobungsring mit dem Tiffany-Logo auf der Außenseite tragen) und individuellen Meisterstücken, die das Ergebnis einer leidenschaftlichen Zusammenarbeit aus dem Erschaffer und dem Designer sind. Um eine Marke zu sein, ist es ausschlaggebend, die richtigen Verbindungen und Ressourcen zu haben – finanziell und persönlich. Man muss über das Gesamtpaket verfügen.
Aber genauso ist das Zeitalter der Marken geschwächt durch das industriell herbeigeführte Ende der Branchen-Pioniere, da die Menschen dem Kreislauf aus Werbung, Medien, Einzelhandel und Kommerzialisierung überdrüssig werden. Lidewij Edelkoort rief jüngst das Ende der Mode und der Ära der Kleidung aus; es wäre möglich, dass der Flirt des Schmuckdesigns mit der Mode nur kurz sein wird.
Hast du zum Abschluss einen Rat für jüngere Künstler und Designer?
Im Geschäft geht es um die Balance zwischen deiner Stimme sowie Philosophie und der Identifikation von Menschen, die jene teilen. Bleibe ersterem treu, solange du genug von jenen finden kannst, die zu letzterem gehören.
Danke, Alice, es war mir eine Freude!
Besuche Alice Cicolinis offizielle Webseite.
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Last Updated on Mai 1, 2025 by Editorial Team

Die in London geborene und in Amsterdam lebende Cleo blickt auf ein Jahrzehnt Erfahrung im Copywriting zurück. Sie hat Slogans für Calvin Klein entwickelt und It-Bags für Burberry benannt. Als kreative Autorin schreibt sie über Mode, Reisen und Persönlichkeiten – zu ihren Lieblings-Themen zählen Jamiroquai, Hugh Hefner und Jackie Collins. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in Esquire und dem Magazin The Club von British Airways veröffentlicht.