Als Yoko Higashi 1970 nach Deutschland kam, dachte sie, dass sie ihre Heimat Japan nie wiedersehen würde. Die wilden Siebziger waren gerade angebrochen, die Hippiebewegung befand sich auf dem Höhepunkt und alle wollten dabei sein. „Die meisten zog es nach New York oder San Francisco“, erzählt Yoko uns. Sie aber fand einen Zeitungsartikel über Mary Wigman, eine deutsche Tänzerin und Choreografin, die expressionistischen Tanz und das Tanztheater salonfähig machte und bis heute als Pionierin des Modern Dance gilt.
Für die junge Yoko, selbst Leichtathletin, Grund genug, nach Deutschland zu gehen. Magisch fühlt sie sich angezogen von der neuen Freiheit der Bewegung, des Körpers und der Möglichkeit, die innere Welt nach außen zu bringen. „Alles muss fließen“, betont sie während unseres Interviews immer wieder. „So auch der Körper und die Gedanken. Wenn man erstmal ins Stocken kommt, geht die Einfachheit verloren und die ist das Perfekteste, das es gibt. Es muss einfach einfach sein.“
An der heute berühmten Folkwang Universität der Künste in Essen wird sie sofort aufgenommen. Sie tanzt mit Pina Bausch und ist bald nicht nur Tänzerin, sondern auch Choreografin, bis sie später eigene Tourneen organisiert und mit ihren Ensembles um die ganze Welt reist.
Jedes Mal, wenn sie ihren Tanz in die Welt trägt, bringt sie auch immer wieder ein Stück der Welt mit nach Deutschland zurück. Wie im Jahr 1972, als sie von ihrer Heimat Japan auserkoren wird, das Land während der Olympischen Spiele in München in der Kunst des Ikebana, des Blumenbindens, zu repräsentieren. Ihre Mutter, eine höchst fortschrittliche Frau, wie sich in unserem Gespräch herausstellt, war Meisterin im Blumenbinden und Lehrmeisterin für Teezeremonien.
Dabei wird eine Tasse Tee bis zu 45 Minuten ohne Unterbrechung bewegt und abgeseiht, bevor sie dem Gast serviert werden darf. Während andere einmal wöchentlich eine Lehrstunde erhielten, saß Yoko Higashi jedes Mal dabei, sah zu und lernte. „Im Ikebana hat jede Blume eine Sonnen- und eine Schattenseite“, erzählt sie wissend. „Es geht nicht darum, sie nach Größen und Farben anzuordnen, sondern um die Geschichten, die sie uns zu erzählen haben.
Bevor ich sie zusammenstecke, unterhalte ich mit ihnen, dann erzählen sie mir, wo sie standen, wie sie wuchsen und nach diesen Kriterien arrangiere ich sie schließlich, um die perfekte Harmonie herzustellen. Darum geht es doch im Leben. Harmonie. Bei den Blumen. Beim Tee. Ja, auch beim Kochen. Alles muss perfekt Hand in Hand gehen und harmonisch sein. Alles trägt ein hell und ein dunkel in sich, Licht und Schatten, Leben und Tod. Dazwischen im ewigen Fluss zu bleiben, das ist Perfektion.“
Sie wiederholt diese Sätze immer wieder wie ein Mantra, und sie wirken. Je länger wir sprechen, desto klarer wird mir, warum ihre Küche so ausgezeichnet ist, wie es immer wieder in Artikeln und Bewertungen berichtet wird. Das YOSHI im Alsterhaus ist kein Restaurant, es ist Ausdruck des Flusses des Lebens. Es ist Frau Higashis Seele, übersetzt in Landschaften aus Fisch, Reis, Gemüse und typisch japanischen Leckereien.
„Je einfacher das Essen ist, umso besser“, versichert Yoko mir. „Die Zutaten müssen natürlich stimmen“, setzt sie nach. „Die exzellente Qualität der Produkte ist keine Entscheidung, es ist eine Frage der Moral.“ Und damit eine Frage, die sich ihr nie gestellt hat.
Gelernt hat sie das als Kind dank der Barmherzigkeit ihrer Mutter. Als eines Tages, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ein Offizier, der im Krieg für die Offiziere und Generäle gekocht hatte, als gebrochener Mann in ihr Heimatdorf zurückkehrte und anfing, in einer Fabrik zu arbeiten, holte Yokos Mutter ihn zu sich und bat ihn, sein Talent nicht zu verschenken. Sie lud ihn ein, regelmäßig für die Familie zu kochen, und war von seinen Fähigkeiten überwältigt.
So beherrschte er durch die lange Zeit in Europa nicht nur die japanische, sondern auch die europäische Küche, was zu dieser Zeit sehr selten war. Sie organisierte einen Kochkurs für all diejenigen im Dorf, die Interesse hatten, und eröffnete bald eine Kochschule, mit ihm als Chef. Er lehrte Yoko Respekt vor jeder Zutat. Er nahm sie unter seine Fittiche und ließ sie beobachten, wo es nur ging. Bis heute erinnert sie sich gern an seine außergewöhnliche Statur und seine aufrechte Haltung, auch dem Leben gegenüber.
Seit ihrer Zeit in Deutschland kochte Yoko immer wieder mit Vorliebe für ihre Freunde. Meist im privaten Rahmen, manchmal aber auch für Galerieeröffnungen und kleine Events. Ihre Kunst bleibt nicht lange verborgen und so wird sie bald von ihren Freunden regelrecht gebeten, selbst ein Restaurant zu eröffnen.
Da die echte japanische Küche eher selten zu finden ist und sie die Vision eines Kochs in seinem weißen Gewand anziehend findet, entscheidet sie sich im Sinne ihrer Freunde und eröffnet das Shiawase, zu Deutsch Weltharmonie, in Hamburg. Ihr auserkorenes Ziel, festgehalten in einem Wort. Alles was Yoko Higashi tut, das tut sie, um völlige Harmonie zu erreichen. Harmonie zwischen ihrem Restaurant und ihrer Arbeit. Zwischen jedem einzelnen Produkt und der Zusammenstellung im Gericht. Zwischen der Erwartung des Gastes und ihrem Anspruch. Jeden Tag aufs Neue arbeitet sie daran, die ganze Welt im Außen und auch ihre innere Welt in Harmonie zu bringen.
Anders als im Tanz, wo die Reaktion des Publikums beinah unspezifisch ist, genießt sie das direkte Feedback ihrer Kunden sehr. Sie möchte wissen, was der Kunde liebt und wo sie noch besser werden kann. Jedes Mal, wenn sie etwas zubereitet, versucht sie es mindestens so gut wie davor zu machen, wenn nicht ein kleines bisschen besser. So nähert sie sich schrittweise der von ihr angestrebten Perfektion.
„Egal was man tut, man sollte es immer im Hier und Jetzt tun. Jeder Gedanke an das Davor oder das Danach stört den Fluss. Es verkompliziert die Einfachheit. Nur wenn ich mich ganz auf den Moment einlasse, gebe ich das Beste. Und das Beste wird so jeden Tag ein wenig besser“, so die heute Dreiundsiebzigjährige.
In ihrem derzeitigen Restaurant, dem hoch oben im Alsterhaus in Hamburg gelegenen YOSHI, beherzigt sie all das und noch viel mehr. Sie hat einen Tempel der Ruhe und Harmonie geschaffen. Ihre Gerichte sehen aus wie blühende Landschaften. Jede Zutat steht für sich und aufgrund der besonders guten Qualität der einzelnen Zutaten braucht es nicht viel, um dem Gaumen ein Erlebnis zu schenken.
Ihre Mitarbeitenden stellt Yoko nach einem ähnlichen Prinzip ein. Fachkräfte umgeht sie, da ihrer Erfahrung nach häufig ein Unwille zur Weiterentwicklung besteht.
Yokos einzigen Anforderungen bestehen darin, dass der Bewerbende eine Ausbildung in einer japanischen Kunst haben sollte. Sei es Kalligraphie, Jiu-Jitsu oder eben Ikebana. Warum das so ist, wollen wir natürlich wissen.
„Wer eine dieser Künste beherrscht, der hat gelernt, was es heißt, im Fluss zu sein und jeden Tag neu zu beginnen, als wäre es der erste. Man muss jeden Tag bereit sein, etwas Neues zu lernen und nach der absoluten Perfektion streben wollen – und das mit dem ganzen Herzen.“
Wenn Yoko Higashi spricht, ist es, als säße man hoch oben über den Wolken auf einem Berg, zusammen mit seiner Meisterin. Eine Kirschblüte würde langsam heransegeln und beide wüssten, dass diese Blüte Teil der nächsten Aufgabe sein wird. Wie genau diese Aufgabe aussehen wird, das ergibt sich dann. Aber dass es immer etwas zu lernen gibt, bleibt ohne Zweifel. Auch wenn es nur um den vermeintlich versehentlichen Flug eines Blütenblattes geht.
In unserem Gespräch bedankt sich Yoko immer und immer wieder bei ihrer Mutter. Für ihre Voraussicht, ihre Güte, ihre Herzenswärme und ihre Klugheit – und auch Yoko Higashi hat all diese Attribute. Obwohl sie vor allem im Hier lebt, so hat sie doch Zukunftsvisionen. Sie hat sich vorgenommen, sollte die Welt weiterhin so funktionieren, dass der Gast nicht mehr einfach so in ein Restaurant gehen kann, so muss das Restaurant eben zum Gast kommen. „Eine Art Gastspiel für Restaurants sozusagen“, sagt sie und lacht herzlich.
Im YOSHI genießt man einen herrlichen Blick über die schöne Hansestadt Hamburg, taucht ein in die Seele und Kultur Japans – und in die von Yoko Higashi – und genießt in einem harmonischen Ambiente feinste Kaiseki-Menüs, die edelste Form der japanischen Küche und Grundlage für unser heutiges Verständnis des Fine Dining.
Es bleibt kein Zweifel daran, wer kulturelle Highlights, authentische Küche und fernöstliche Philosophie mag, der sollte sich auf Frau Higashis Gespür für Harmonie und Perfektion verlassen und sich einen Abend im YOSHI gönnen.
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Text: Esther Seibt
Fotos: YOSHI im Alsterhaus
Last Updated on März 17, 2024 by Editorial Team
Esther ist eine kreative Autorin aus Berlin, die sich auf die Themen Lifestyle, Reisen und Gesundheit spezialisiert hat. Sie hat ein geschultes Auge für Details. Sie verfasst ansprechende und hochwertige Inhalte, in denen Wellness, Hotelführer und unsere sorgfältig ausgewählten Lifestyle-Guides ineinander verschmelzen.